Wir schreiben das Jahr 1959. Zwei junge Männer,
meine Wenigkeit und mein Fahrtenkamerad Wolfgang, befinden sich auf einer halbjährlichen 3000 km langen Paddeltour von Duisburg nach Lappland. Holland, die Nordsee, Nachtfahrt auf der Außenweser, Nordostseekanal, der Fehmarnbelt, Dänemark und der Öresund liegen hinter uns. Unsere Boote Klepper- T6 und T9. In wenigen Tagen haben wir Mittsommernacht. Seit 6 Wochen haben wir kaum eine Wolke mehr am Himmel gesehen.
Montag den 15.06 59
Wir zelten auf dem Kap Kullen am Ende des Öresundes, 10 m hoch in den Felsen. Wir werden morgens in aller Frühe sehr unsanft geweckt. Das Zelt flattert, Häringe fliegen im hohen Bogen, Sturm und dicke Regenwolken jagen über das Kap hinweg. Am Ufer ist eine gewaltige Brandung entstanden. Die Gischt fliegt noch 10 m höher als unser Zelt. Jetzt wissen wir warum in 30 m Höhe die Pfützen salzig sind. Die Boote, die auf halber Höhe liegen, müssen wir jetzt auch nach oben in Sicherheit bringen. Das Zelt wird mit Überzelt und Sturmleinen ergänzt, dann kriechen wir wieder in unsere Schlafsäcke und lassen die Schauer über uns blasen.
Dienstag, den 16.06.59
Früh sind wir auf den Beinen. Das Sturmtief ist abgezogen, die Sonne scheint wieder vom wolkenlosen Himmel und der Wind säuselt noch mit 1 bis 2 Windstärken. Wir wollen heute über die knapp 20 km breite Bucht zur Insel “Hallands Väderö, die man von hier aus gut sehen kann. Obwohl die Wellen immer noch sehr hoch sind, beschließen wir weiter zu fahren. An unserer Einsatzstelle schwabbelt das Wasser noch sehr unangenehm, doch irgendwie sitzen wir bald in den Booten und haben die Spritzdecke um den Bauch. An der Kapspitze kommen wir voll in der Dünung. Es gibt eine wüste Schaukelei. Die wenigen Touristen sind bis auf die äußerste Spitze geturnt und bewundern uns höchstwahrscheinlich mit hochstehenden Haaren. Wir nehmen Kurs auf unsere Trauminsel. Der Wind frischt wieder aus West weiter bis 4 auf, so dass es eine sehr nasse Fahrt wird. Die Spritzdecken werden laufend überspült und es spritzt ständig in die verbrannten Gesichter. Fahren wir mehr als
10 m auseinander, so verlieren wir uns aus den Augen.
Es sieht spaßig aus, wenn mein Freund hinter einer Welle hochschießt, um gleich wieder zu verschwinden. Da wir mit über 30° gegen den Wind und die Wellen halten müssen, machen wir eine schlechte Fahrt. Doch irgendwann ist auch die vorbei. Am frühen Nachmittag landen wir wohlbehalten, aber salzbeschmiert und durchnässt, auf der Leeseite der Insel und finden sofort einen wunderschönen Zeltplatz. (18 km)
Als Survivalspezialisten fällt uns gleich der Wildreichtum, mit zum Teil unglaublich kurzen Fluchtdistanzen, auf. Uns läuft das Wasser im Munde zusammen. Wir beherrschen eine Reihe von Taktiken, mit und ohne Waffe, um unseren Küchenzettel mit diesem Reichtum zu ergänzen. Wie wir aber bald feststellen, gibt es nicht nur große Tiere, sondern auch eine ganze Reihe netter kleiner Plagegeister. Ohrenkneifer, 3 Sorten Mücken, 5 Sorten Ameisen, Zecken und 6 Sorten Bremsen. Diese müssen wir 3 Tage in unserem Paradies ertragen, da der Wind sich in eine steife Nordwestbriese gewandelt hat. Die hat genug Zeit, bei den 150 km von der Dänischen Küste bis hierher, eine hohe Dünung aufzubauen und das bei strahlendem Sonnenschein. Ich leide unter den Mücken und Bremsen, während Wolfgang sich hauptamtlich mit den Zecken abgibt. Nach drei Tagen weist sein roter, struppiger Wikingerbart einige unansehnliche Löcher auf, die beim Freilegen der Zecken entstanden sind. Auf der Insel gibt es einen Bauernhof, einen Badestrand mit Cafe, (mit blondgelockten, netten Schönheiten) einen Leuchtturm und einige Wochenendhäuser. Unsere Seite ist dicht mit Wald und Buschwerk bewachsen, auch große Mengen Wacholder, ein Zeichen von Trockenheit. Am zweiten Tag erfahren wir, dass die Insel ein Naturpark ist. Wir hatten schon gedacht die Hasen wären nur ganz einfach erpicht darauf, in unsere Pfanne zu landen. Auch erzählte man uns, dass es in diesem Jahr schon seit Monaten keine nennenswerten Niederschläge gegeben hat. Wir sollen bloß nicht die Insel in Brand stecken. Zelten ist natürlich verboten, aber man sieht ein, dass wir in einer Notlage sind.
Am dritten Tag lässt der Wind im Laufe des Vormittags fast vollkommen nach. Fahren oder nicht fahren. Die Hasen und Enten hängen uns langsam zum Hals raus, die normalen Nahrungsmittel werden knapp. Mit anderen Worten, der Küchenzettel wird immer bescheidener. 30 km offenes Wasser ohne jeden Schutz liegen vor uns. Uns ist aufgrund unserer Erfahrung nicht ganz geheuer. Ein Schwarm Bremsen, die jetzt bei der Windstille über uns herfallen, erleichtern die Entscheidung, wir packen. Wolfgang zieht noch schnell einem Hasen das zeckenbespickte Fell über die Ohren. Man kann ja nicht wissen, ob wir zum Abendessen was besseres kriegen.
Als wir die Insel verlassen, vermisst man dort 6 Hasen, 5 Enten und 2 Gänsesäger. Aber wir haben die Ungezieferplage, wenigstens in unserer “Ecke”, etwas eingedämmt. Kaum sind wir aus dem Windschatten der Insel, da hat uns die Dünung schon in ihre Gewalt, zwar glatt, aber gehörig rauf und runter, rauf und runter. Mir wird zum ersten mal auf See furchtbar übel. Die viel zu fetten Pfannkuchen, nur aus Mehl und Wasser, wollen unbedingt wieder raus. Wolfgang hat sich noch Butter drauf geschmiert, als Milchersatz.
Obwohl es ihm auch nicht wesentlich besser geht, macht er sich über mich lustig und quasselt dauernd von Pfannkuchen, mit viel Eiern, Milch, Beeren, die wir bald in Mengen bekommen, Backpulver zum Auflockern und was man sonst noch alles mit Pfannkuchen anstellen kann, um sie bekömmlicher zu machen. Ein Finger im Hals, und ich wäre sie los, doch weiss ich nicht, wann es wieder was zu essen gibt, also Kopf hoch und tapfer sein. Die Sonne am wolkenlosen Himmel und die ruhige Luft geben den Rest. So quälen wir uns über die ersten 15 km.
Da, fast gleichzeitig, sehen wir im Westen einen pechschwarzen Streifen am Horizont. In wenigen Minuten ist er schon breiter geworden.
Wir brauchen nicht erst zu diskutieren, jetzt geht’s ums Ganze. Vergessen ist Seekrankheit und Pfannkuchen, überhaupt sind Essen und Trinken nicht mehr so wichtig. Die Karte sagt uns, dass in der Bucht im Osten ein Bach mündet. Sollten wir kentern oder uns nicht gegen den zu erwartenden Sturm halten können, gibt es für uns die Möglichkeit die Bachmündung unter Top und Takel anzulaufen, wie es in der Fachsprache heißt, und eine “sanfte” Landung versuchen. Mit Grauen denken wir an die Brandung vor ein paar Tagen auf Kullen, wo es nur steile Felsen gab
Wir knüppeln wie die Wilden in Richtung Norden, um so viel Raum wie möglich zu gewinnen. Es sieht nach Weltuntergang aus. Der gesamte westliche Himmel ist von Norden bis zum Süden eine einzige pechschwarze Wand, die Osthälfte immer noch wolkenfrei. Nach ca. dreiviertel Stunden ist das Unwetter über uns, ca. 10 km liegen noch vor uns bis zur rettenden Insel. Es geht rasend schnell. Erst ein paar kräftige Windstöße, dann gleichmäßiger starker Wind mit kräftigen Böen 7 bis 8. In wenigen Minuten ist die Hölle um uns. Es fängt auch an zu schütten, regnen kann man das nicht mehr nennen. Die Sonne hat sich schon lange hinter der Wolkenwand verkrochen. Jetzt wird es aber gespenstisch dunkel, auch das Wasser hat die anthrazitgraue Farbe angenommen.. Es ist auch keine Gischt mehr, die über unsere Boote fegt, es sind mittlerweile Brecher. Das Wasser, welches uns ins Gesicht schlägt, ist eine Mischung aus Salz- und Süßwasser.
Wir müssen ca. 45 ° gegenhalten, so ist es nicht schwer die ganz dicken Brummer von vorn zu nehmen. Vor den ganz dicken Kavenzmännern warnen wir uns gegenseitig, müssen aber so laut wie möglich brüllen. Jetzt bitte keinen Defekt an Mensch oder Gerät. Ein Paddelbruch könnte jetzt tödlich sein, auch wenn wir ein Reservepaddel dabei haben. Bis das Reservepaddel in Aktion ist, liegt der Unglückliche gewiss längst im Wasser. Die Spritzdecken machen mir Sorgen. Nicht, dass sie eingedrückt werden könnten, sondern wegen der Undichtigkeit. Wie lange wird es noch dauern, bis wir so viel Wasser übernommen haben, dass wir die Boote nicht mehr beherrschen.
Nach gut 2 Stunden ist das Schlimmste über uns weg. Die schweren Böen haben nachgelassen, der Wind hat sich wieder auf 5 bis 6 eingependelt, so wie er sich das in den letzten Tagen angewöhnt hatte.
Wir müssen zwar immer noch stark gegenhalten, kommen jetzt aber wieder besser voran.
8 1/2 Stunden sind vergangen, da laufen wir am frühen Abend auf der Leeseite der kleinen Sandinsel Tylo auf den Strand. Etwas mitgenommen ziehen wir unsere Boote an Land. Beide haben wir fast 10 cm hoch das Wasser im Boot stehen. Der Wind hat noch weiter nachgelassen und hat jetzt einem soliden Landregen Platz gemacht. Ein kräftiger Rippenstoß besiegelt die “Affäre”, das war‘s!
Schnell ist das Zelt aufgebaut, das vorbereitete Häschen in der Pfanne und ein Pott Tee gekocht. Seit der Abfahrt vor 9 Stunden haben wir nichts mehr gegessen. Unterm prasselnden Überzelt schaukelt es immer noch, aber wir sind bei bester Laune. Wir sind uns darüber im klaren, dass wir unsere Leistungsgrenze erreicht hatten. Ein kleines Missgeschick, oder eine kleine Unaufmerksamkeit, die Katastrophe wäre programmiert gewesen. Der nächste große Sprung wartet auf der anderen Seite von Schweden auf uns, der Hopser nach Finnland, da sollten wir uns bessere Bedingungen aussuchen.
Die gesamte Tour war übrigens möglich ohne Synthetikzelt, ohne Mumienschlafsack, ohne Isomatte, ohne Paddelfloat, Schwimmweste, Nicosignal, Notsender, Radio, Seekarten nur vom Alandgebiet, 2 Marschkompasse, 3 der heutigen Standardpaddel, ohne Trockenanzug oder Neo, ohne Kocher, ohne Krankenversicherung.
Und Zuhause keine Firma, kein Auto, kein Haus, Hof, Weib, Kind, Freundin, Hund, Katze, Goldfisch und den ganzen sonstigen Krempel den man sich im Laufe des Lebens so an den “Hals” hängt.
Ja, und natürlich keine Kunden!