THE BOTTLE
Seit Wochen treiben wir uns auf der Ostsee herum, auf einer Mammut-Kanufahrt von Deutschland nach Mittel-Finnland. Man schreibt das Jahr 1959.
Die halbjährige Fahrt können wir finanziell nur durchstehen, indem wir uns fast ausschließlich von Grundnahrungsmitteln ernähren und dem was uns das Umfeld liefert. Selbstverständlich wird regelmäßig geangelt und jede Möglichkeit genutzt, den Küchenzettel zu bereichern.
Die Fahrt ist für mich ein einziges Survival-Training. Freund Wolfgang bringt in dieser Hinsicht umfangreiche Kenntnisse mit. Er weiß, wie man Fuchs und Habicht die Beute abjagt, wie man den Blinker wirft, den Angelhaken anknotet, wie man an Köderwürmer kommt, usw. Er sich als gebürtiger Schlesier in Pilzen aus und kennt auch so manches essbare Pflänzchen bzw. Kräuter, die zu Tee weiterverarbeitet werden.
Zurück zum „Bottle“: Seit Kopenhagen hat kein Tropfen Alkohol mehr unsere Kehlen erfreut und das liegt einige Monate hinter uns. Plötzlich reißt mich Wolfgangs Stimme aus meiner Träumerei der eintönigen Paddelei:“ Heinz, komm mal näher!“ Er winkt mit einer Flasche. Beim Näherkommen erkenne ich eine sehr dekorative, gebauchte, braune Flasche mit einem ins Glas eingegossenen Schriftzug „The bottle“, darunter alles weitere in englischer Sprache. Leider waren damals unsere Englischkenntnisse nicht besonders umfangreich, so dass wir diesen Text nicht einwandfrei entziffern konnten.
Die Flasche hat einen Drehverschluss, den Wolfgang natürlich schon auf hat, bevor ich ihn erreicht habe und schnuppert mit einer entwöhnten Nase an dem „Gesöff“. Die Flasche ist noch zu einem Drittel voll. „Riech mal, riecht fast wie Parfum, aber doch wieder anders!“ „Zeig her!“ Ich darf auch schnuppern. Es könnte exotisches Rasierwasser sein, aber in einer so aufwendigen, fast ein Liter fassenden Flasche? Wir probieren aus dem Schraubverschluss einige winzige Schlückchen. Wolfgang hat als echter Survival –Spezialist natürlich auch Erfahrung mit Selbstgebranntem. „Ein Auge wird riskiert“, ist Wolfgang Schwarzbrenners Kommentar.
Das Zeug kratzt in unseren entwöhnten Kehlen. Es schmeckt eigenartig, nicht unangenehm; sehr fremdartig, exotisch. Wir nehmen jeder einen kleinen Schluck aus dem Schraubverschluss und sind dann doch der Meinung erst einmal abzuwarten und vorsichtig zu sein. Wir wollen uns weder umbringen, noch unser Augenlicht riskieren. Wir paddeln weiter, unserem Tagesziel entgegen. Jetzt haben wir natürlich Gesprächsstoff: Wo kommt die Flasche her, wie in die Ostsee. Selbstverständlich stammt sie von irgendeinem Schiff, aber von welchem? Welche Nationalität mag es gehabt haben? Wo werden solche Flaschen gehandelt? Ist der Inhalt eventuell Gesichts- oder Rasierwasser oder wird der Inhalt eventuell als Ersatz für noch nicht erfundene Deo-Sprays verwendet (1959)? Vielleicht wird so ein Zeug in bestimmten Kreisen als Haarwasser verwendet, für Haare, die man normalerweise nicht kämmt. Wir lassen unserer Phantasie freien Lauf. Die schönen Blonden des Nordens lassen wir aus wohltemperiertem Bade steigen, die sich dann mit unserem Teufelszeug an bestimmten Stellen betupfen, an Stellen die weibliche Wesen besonders liebenswert machen.
Wir finden zwischenzeitlich einen geeigneten Lagerplatz. Bevor unser Treibgut in Sicherheit gebracht wird, geht die Probiererei weiter. Welcher Geschmack uns erwartet, wissen wir ja jetzt, also konzentrieren wir uns auf Feinheiten; wir kommen aber einfach nicht weiter. Es müssen ganz einfach mehrere Exzenzen aus südlichen Gefilden sein, die diesen süßlichen und aufreizenden Geschmack erzeugen. Zunächst aber nimmt der Alltag uns wieder in seinen Bann: Zelt aufschlagen, angeln, Pilze und Beeren suchen, Reis aufwärmen oder was sonst zum Lebensunterhalt unterwegs gehört. Der Tag war einmal wieder sehr hart und nach dem Essen verschwinden wir recht bald in unsere Schlafsäcke und träumen von süßen Sauf- und Fressgelagen, von vornehmen Damen, galanten Herren, aber auch von Weißgekittelten, die uns daran hindern ins Jenseits zu entschlummern.
Mit einem kräftigen Rippenstoß weckt mich Wolfgang. „Na, wie geht es Dir?“ „Wie soll es mir gehen? Gut, wie immer. Ach die Flasche, ja sicher!“
Wir haben keinen „Flotten“, uns ist es nicht schlecht geworden und unsere Sehkraft hat scheinbar auch nicht gelitten. Also ist es ein einwandfreies „Gesöff“. Wir beschließen einen Ruhetag einzulegen. Natürlich schrumpft der Inhalt der Flasche, bis auf einen schäbigen Rest im Laufe des Tages zusammen, aber zu einem vernünftigen Ergebnis kommen wir einfach nicht.
Heute nach vielen, vielen Jahren bin ich immer noch sehr skeptisch und denke darüber nach, ob das Zeug nicht doch auf unsere Augen geschlagen ist; tragen wir doch seit Jahren beide, wenigstens beim Lesen, eine Brille. Ist diese Sehschwäche nun auf eine normale Alterskurzsichtigkeit zurückzuführen oder haben wir die Langzeitwirkung nicht bedacht, so dass uns dieses Teufelszeug doch auf die Augen geschlagen ist?